Sonntag war Anreisetag. Nach längerem Hin und Her zwischen Bahn und Auto entschied ich mich für das Auto. In meiner kindlich-naiven Einstellung glaubte ich, dass es mit einem Navi kein Problem sein sollte; jedoch war das Navi anfangs darauf eingestellt keine Autobahnen zu verwenden. Die anfängliche Route war somit suboptimal - zumindest bezüglich der benötigten Zeit. Irgendwann eruierte ich das Problem und die Anreise gestaltete sich einfacher.
Im Camp angekommen, bezog ich mein Zimmer; dank der Anreise mit dem Auto hatte ich ausreichend Gepäck dabei. Am Nachmittag stellten sich kurz die Trainer vor und präsentierten einen Einblick in ihre jeweilige Stilrichtung. Das Konzept der Organisatoren: Guter Betreuer und böser (im Sinne von strenger) Betreuer sollte sich über die ganze Woche hinweg als sehr brauchbar erweisen, um die Kinder im Zaum zu halten. Geschafft von den Strapazen der Anreise - ich muss gestehen, ich war noch nie ein begeisterter Autofahrer - fiel ich auch relativ früh ins Bett.
Montags hab ich dafür gleich mal das Frühstück verschlafen; mit nüchternem Magen trainiert es sich eh viel besser.
Das Training war aufgeteilt in eine Gruppe für Kinder und eine für Jugendliche und Erwachsene. Letztere wurde auf „Matte 2“ durchgeführt, allerdings war die „Matte“ ein leicht sandiger massiver Hallenboden. Irgendwann muss man ja auch mal lernen auf hartem Boden zu trainieren. Das Training bestand aus drei Einheiten, in denen jeweils unterschiedliche Stilrichtungen unterrichtet wurden.
Als Brillenträger hat man immer so das Problem, einen Platz für die Brille zu finden, an dem sie nicht beschädigt wird. In meiner Überlegung stellte das Fußballtor ganz hinten im Raum einen dafür geeigneten Platz dar. So hängte ich die Brille dort ins Netz und glaubte, sie sei dort in Sicherheit. Dazu später mehr. Die erste Trainingseinheit war dem Karate-Defense gewidmet. Zum ersten Mal, seit ich mich intensiver mit dem Budosport auseinandersetze, sah ich, wie ein wahrer Könner eine alte Kata, nicht einer der modernen Sportkatas, lief. Als Schüler kann man da wohl nur erahnen, wie viel noch mehr in einer solchen Kata verborgen ist, als man es beim ersten Mal mit seinen Augen erfassen kann. Die zweite Einheit bestand aus Aikido. Die Grundidee des Aikidio, so wurde uns erklärt, liegt darin, dem Gegner die Sinnlosigkeit seines Angriffes zu zeigen. Bei einer Demonstration durch den Meister führte ich den Angriff so langsam und kraftlos aus, um der Technik selber besser folgen zu können, dass dieser damit nichts anfangen konnte. Schließlich arbeitet er ja mit der Energie des Gegners und dieser Angriff war weit davon entfernt auch nur ansatzweise eine Gefahr darzustellen.
Am Abend davor hatte ich noch mit einem der Meister darüber diskutiert, ob man den Sieg oder das Nicht-Verlieren anstreben sollte. Der Meister tat diese Überlegungen meinerseits als akademisches Problem ab. Aber hier sah ich direkt, worin der Unterschied lag. Zurück zur Brille: Nicht ahnen konnte ich, dass während der dritten Einheit das Tor mitsamt der Brille entfernt werden würde, selbige auf dem Weg zum neuen Bestimmungsort des Tores auf den Boden fallen würde, dazu noch in der Mitte auf einem viel belaufenen Wege und von selbiger nur mehr kleine Bruchstücke übrig bleiben würde. So stand ich nun am Ende der ersten drei Trainingseinheiten ohne Brille da. Als Brillenträger lernt man allerdings sich Mechanismen zu Recht zulegen und so hab ich bei solchen Ausflügen auch immer eine Ersatzbrille dabei.
Am Dienstag - diesmal mit Frühstück - erwartete uns die erste Einheit Boxen. Nach ein paar Grundtechniken gingen wir zum Sparring über. Es liegt ja im Ungestüm der Jugend, und nicht nur derer, sich mit Anderen messen zu wollen. Das Sparring der ersten Paarung endete nach ca. 10 Sekunden mit einer blutenden Nase. Aber „die Show must go on“. Ich entschied mich auch für eine Runde leichtes Sparring mit einem, der relativ unerfahren im Boxen schien. Dabei hatte ich nur die Absicht einfach nur nett mit dem ein wenig zu spielen. Gegen Ende des Sparrings kassierte ich einen leichten Wirkungstreffer und musste wieder einmal feststellen, dass es um meine Nehmerqualitäten nicht zum Besten bestellt ist. Die zweite Trainingseinheit an diesem Vormittag wurde von Thorben abgehalten: Ein junger Schwarzgurt, technisch vom Feinsten und auch mit einer enormen Kraft ausgestattet. Für mich verkörpert er das Ideal eines jungen Jitsu-Meisters, der gerade seinen Do begonnen hat. Eine Aussage von ihm bleibt mir besonders im Gedächtnis: „ Bei der Pose des Fixierens des Anderen ist darauf zu achten, dass es gut aussieht“. Gemeint war damit zweifelsohne, dass es funktional sein soll und man nach wie vor handlungsfähig bleibt und sich nicht selber zu sehr an den Gegner bindet. Aber die Wortwahl war einfach bezeichnend. Kickboxen bildete die dritte Trainingseinheit am Dienstag. Ich wäre dabei fast wieder K.O. gegangen, allerdings diesmal nicht durch Einwirkungen beim Sparring, sondern beim Vorzeigen einer Technik durch den Trainer. Es handelte sich um eine kombinierte Vitalpunktstimulation von so was wie Bauch 5 und Gallenblase 20. Beide Punkte waren mir als K.O.-Punkte bekannt. Direkt in einer Kombination verwendet hatte ich das bis dato noch in keinem Buch gelesen. Was mich dabei extrem erschreckte, war die Leichtigkeit, mit welcher diese Schläge ausgeführt wurden. Gleichzeitig waren diese Techniken aber so präzise, dass ich fast das Bewusstsein verlor. Der Trainer kannte auch die Gegenmaßnahmen, mit der man einen solchen Treffer behandelt und so baute er mich binnen weniger Minuten auch wieder komplett auf. Ein technisch perfekter Kämpfer soll ja nicht nur wissen, wie er verletzen kann, sondern eben auch, wie man heilt.
Am Nachmittag hatte ich mit einem der Meister eine interessante Diskussion über den Punkt „Man soll dem Schwächeren helfen“. Ich selbst habe viel über den Punkt nachgedacht. Dabei gingen mir so Dinge durch den Kopf, dass auch ein vermeindlich Schwächerer der Aggressor sein könnte und es meinem Empfinden nach es sich nun nicht anschicken würde, dem Aggressor zu helfen nur, weil er eben schwächer ist. Der befrage Meister meinte nur, dass so was immer im übertragenen Sinn zu verstehen ist und nie direkt wörtlich. Eine ganz einfache Erklärung, die auch so nahe liegend scheint, und dennoch kam ich nicht selber drauf. Vor einiger Zeit hatte ich auch mal mit meinem eigenen Trainer über dieses Thema diskutiert und er meinte, dass ich eine Abhandlung darüber schreiben soll. Zu dem Zeitpunkt war ich wohl noch nicht reif, diese einfachen Dinge zu erkennen und so sollte ich mich wohl noch länger mit der Materie beschäftigen.
An dem Tag bekam ich auch noch eine zweite Antwort auf eine Frage die mich schon länger beschäftigte: „Warum schüttet bei mir der Körper, wenn ich eine vermeintlich wichtige Schachpartie spiele mehr Adrenalin aus als beim Sparring?“ Die Gegenfrage, die mir der Karate-Meister stellte, war die, ob ich schon jemals auf Turnieren gekämpft habe und wieder gab auf einmal alles einen Sinn. Im Schach machte es mir was aus, ob ich gewann oder verlor. Nachdem ich aber bisher nur dem Sparring gefrönt hatte und es dabei aufrichtig in keiner Weise um das Gewinnen oder Verlieren ging, war es mir eben auch wirklich egal, wie es ausging. Das Ziel, das dabei immer verfolgt wurde, war eine Verfeinerung der Technik von beiden und nicht das „sich am anderen Messen“. Am späteren Nachmittag diskutierte ich dann noch mit dem Kickbox Trainer, bei dem ich am Vormittag fast K.O. gegangen wäre. Er erklärte mir, dass man ab dem schwarzen Gurt erst technisch befähigt ist die interessanten Dinge zu lernen und zu verstehen und dass dieser auf keinen Fall den Höhepunkt des Erreichbaren darstellt. Wie viel man schon wissen und meistern können muss, um gewisse Dinge erst erlernen zu können.
Am Abend stand Streichelzoo mit Fütterung an. Der Zoobetreuer erklärte uns, dass es drei Arten von Kindern gibt: Kinder, die Tiere lieben, Kinder die Tiere fürchten und Kinder die Tiere ärgern. Er erzählte uns dann noch die Geschichte von Kindern, die mit Steinen mehrere Eier kurz vor dem Schlüpfen zerstörten. Welch sinnloser Akt der Barbarei. Beim Zuhören ging mir die Grundphilosophie des Aikido durch den Kopf -„dem Gegner die Sinnlosigkeit seines Angriffs bewusst machen“ und auch, dass diese Unterteilung der Kinder in 3 Gruppen wohl auch für den Rest der Menschheit gilt. Das Füttern selber gestaltete sich deutlich aufregender als zunächst gedacht. Man bekam einen Futtereimer und betrat mit eben solchem das Gehege der Tiere. Es dauerte dabei nie lange bis man von einer Horde verschiedenster Tiere umgeben waren, die sehr gierig darauf waren etwas von dem Futter abzubekommen. Die Variante den Eimer auf den Kopf zu stellen und somit dem Zugriff der Tiere zu entziehen scheiterte daran, dass die Lamas groß genug waren, um trotzdem daraus zu fressen. An dieser Stelle soll vermerkt sein, dass es ein höchst interessantes Gefühl ist, wenn ein hungriges und rund zwei Köpfe größeres Lama, auf einmal quasi aus dem Nichts hinter einem auftaucht. Wenn der Andrang der Tiere zu groß war stellte ich den Einer auf dem Boden und entfernte mich schnellen Schrittes. Die Überlegung dahinter war, dass man den Tieren jeglichen Grund nimmt einen weiter zu bedrängen. Mich erinnerte das an eine Empfehlung aus einem Buch die zum Thema Überfall meinte, man soll dem Dieb die Brieftasche hinwerfen, da das 95% der Gründe eliminiert einen weiter zu verfolgen.
Später am Abend hatte ich dann noch ein weiteres Gespräch mit dem Kickboxtrainer. Er erklärte mir dabei, dass es im Karate oft Dinge in den Katas gibt, deren direkte Erklärung falsch ist. Einer der klassischen Blocks nach oben (wenn ich mich recht erinnere war es ein Age-Uke) ist gar Keiner, sondern ein Wurf (oder war es ein Hebel?). Mir fiel dazu auch das Zen- Sprichwort ein, dass man nie alles auf einmal sagen soll. Zuerst lehrt einem die Kata die korrekte Bewegung, später lernt man erst den tieferen Sinn dahinter, die ersten Erklärungsmodelle sind dabei als Eselsbrücke zu sehen, um sich die Bewegung besser einprägen zu können. Interessant waren auch seine Ausführungen, wie schnell man sich in Europa als Akupunkteur bezeichnen darf und wie lange es in China bedarf, eine solche Ausbildung zu absolvieren.
Der Mittwoch stand ganz im Zeichen eines Ausflugs in einen Vergnügungspark. Mit einem der Meister hatte ich dort ein interessantes Gespräch über Gegensätze. Wir kamen darauf zu sprechen, als ich bemerkte welch kindliche Freude unser junger Schwarzgurt bei einer Wasserschlacht entwickelte. Besagter Kampfkunstmeister stellte für mich selber ein Bild der Gegensätze dar, als ich ihn mit seinem Baby im Kinderwagen sah. Gegensätze müssen ja noch lange kein Widerspruch sein. Er erzählte mir im Gespräch von einem seiner Schüler, der noch nicht befähigt ist Instrukteur zu sein, obwohl er technisch über das nötige Können verfügt. Wer nur die reine Technik meistern kann ist noch lange kein wahrer Meister.
Von einem anderen Meister hab ich an dem Tag erfahren wie man Pfefferspray richtig einsetzt: Auf die Windrichtung achten und nach dem Sprühen im Laufschritt das Weite suchen. Die Richtige Handhabung von Pfefferspray hatte mich schon länger interessiert, aber bisher fand ich nichts in der einschlägigen Literatur darüber.
Vom Aikidomeister lernte ich noch, wie man mit Flipflops auch rückwärts zu gehen vermag und, dass selbige Schuhwerk früher durchaus auch bei Kämpfen getragen wurde. Die Technik besteht darin, sich mit den Zehen wie mit einer Kralle an den Schuhen festzuhalten, um so den Schuh fest am Fuß zu haben.
Interessant war auch die Aussage von einem der Meister, dass so jemand wie Olaf überall bestehen kann, weil er sehr viele andere Dinge kennt und sich damit beschäftigt. In vielen Vereinen herrsche oft Inzucht bzw. es gäbe ein Verfall bei den Graduierungen, Sammelleidenschaft an Dan-Auszeichnungen verschiedenster Stilrichtungen. Vor allem auch finanziell ließe sich oft auch Einiges machen. In den Sinn kamen mir bei solchen Aussagen immer die Parallele zum akademischen System und der Verfall der akademischen Titel. An eine Diskussion an dem Tag über den Anspruch des Absoluten eines Systems in den Kampfkünsten kann ich mich auch noch sehr gut erinnern. Die Limitierung, so wurde mir erklärt, erfolgt durch die menschliche Anatomie. Die Unterschiede der einzelnen Systeme liegen weniger im Großen, sondern in den ganz feinen Details. Ich bekam auch demonstriert, was damit gemeint war. Mir wurde gezeigt wie bedeutend wirkungsvoller ein Hebel ist, der zusätzlich mit einem bestimmten Drücken kombiniert wird. Und was ich mich auch immer frage: Wieso beschäftige ich mich als kleiner Gelbgurt mit solchen Dingen?
Der Abend endete mit einer herrlichen Lagerfeuerromantik mit Schokolade, Käse, Wurst und anderen Leckereien. Jeder, der was hatte, stellte es auf den Tisch und jeder nahm sich ein Stück davon. Ein gegenseitiges Geben und Nehmen wie es in jedem Dojo herrschen soll.
Am Donnerstag musste ich mich schon mit einer gewissen Kraftanstrengung gen Frühstück schleppen, ein sehr flächiger Muskelkater war zu spüren. Kickboxen bildete am Donnerst wieder die erste Einheit. Diesmal aber bei einem anderen Kickbox Trainer, ebenfalls ein Vollprofi von allerhöchster Güte. Im Training musste ich dauerschwitzen, aber ohne dabei außer Atem zu kommen. Wie leicht ist es doch einen Schüler an seine körperlichen Grenzen zu bringen; wie ungleich schwieriger ist es diese Gratwanderung zu erzielen. Am Ende der Trainingseinheit erläuterte er uns noch kurz ein paar Details zu seiner Kunst, plauderte aus seinem Nähkästchen, das voller Erfahrungen war und vor allem gab er uns auch einen Rat den, ich mir gemerkt hab: „Seit kreativ“. In der nächsten Trainingseinheit stand Hapkido auf dem Programm. Allerdings realisierte ich das erst im Nachhinein. Ich hielt es für Jiu-Jutsu. Später hab ich mir auch erklären lassen, dass sich diese beiden Stilrichtungen sehr ähnlich sind. Als ich dort als Vorzeigeobjekt des Trainers agierte, wurde während einer Technik, bei der ein Hebel in den Nächsten übergeht, mein rechter Arm ein wenig beleidigt. „Zu viele Hebel sind des Gelbgurts Tod“ sagt schon ein altes japanisches Sprichwort. Zumindest sollte es so ein Sprichwort geben. Am Abend hab ich noch darüber mit einem der Meister geredet, wie man solchen Verletzungen am besten vorbeugt und ich bekam die Empfehlung, mehr Krafttraining, insbesondere verschiedene Arten von Liegestützen, regelmäßig zu machen. Bisher lag mein Fokus auf Technik, Ausdauer und den Hintergründen. Aber ein explizites Krafttraining stand bis dato nicht auf meinem Trainingsprogramm. Zweifelsohne ein Versäumnis, welches ich in der nächsten Zeit zu korrigieren anfangen werde.
Während des Trainings war mir der über alle Tage perfekt gebundene Gürtel eines Weißgurts aufgefallen. Ihn darauf angesprochen, offenbarte er mir, dass er den braunen Gurt in Taekwondo innehat. Mich erinnerte das an den Kendo-Spruch, dass man allein an der Art, wie man das Schwert, hält sehen kann, wie gut sein Können ist.
Donnerstagnachmittag widmete ich mich mit vollem Engagement und voller Leidenschaft dem Faulenzen am See. Im Camp selber gab es eine Kirmes. „Nein Danke“, dachte ich mir innerlich, wobei es mich schon ein klein wenig gereizt hat bei einem der Stände mich bei einer Runde „Vier gewinnt“ mit anderen zu messen, wobei es wohl ein sehr ungleicher Kampf gewesen wäre. Es war das erste Spiel, mit dem ich mich von einer spieletheoretischen Sichtweise auseinandergesetzt habe. Auf der Uni wurde dieses Spiel als Beispiel hergenommen, weil es eine gewisse Komplexität hat, aber dennoch mehr oder minder handhabbar bleibt- trotz kombinatorischer Explosion. Mit einem gewissen Gefühl der Dekadenz genoss ich es, einen Badesee für mich alleine zu haben. Alle anderen Campgäste waren bei besagter Kirmes. So legte ich mich gemütlich auf den Holzsteg, cremte mich gegen die Sonne ein und las ein mitgebrachtes Buch über Zen fertig. Das erschreckende an den Zen- Rätseln war für mich, dass einige davon mit der beigefügten Erklärung noch viel unverständlicher wurden als ohne selbige. Aber dadurch wird einem bewusst, was noch für ein weiter Weg vor einem liegt, um ein tiefer gehendes Verständnis zu erlangen.
Am Abend hatte ich ein längeres und im höchsten Masse Interessantes Gespräch mit dem Judotrainer. So lang, dass ich trotz spürender Müdigkeit nicht schlafen gehen wollte. Er erklärte mir dabei unter anderem wie wichtig eine gesamtheitliche Betrachtungsweise für ein Kampfsystem ist und brachte dabei den Vergleich mit einer Mandarine. Sobald bei einer Mandarine Stücke fehlen, ist es einfach keine Mandarine mehr. Unter anderem hab ich bei diesem Plausch auch demonstriert bekommen, wie erschreckend ein Kampfschrei sein kann, wenn man mit so was nicht rechnet. Der ausgestoßene Laut war ein „P“ gefolgt von einem kurzen „A“. Nicht nur ich erschrak bei dem Kiai. Auch Leute am Nachbartisch wurden Opfer dieses Kiais. Er erzählte mir auch von einem Schlägertypen den er mit Judo von der Strasse geholt hat. Durch dessen ausgeprägten Killerinstinkt brachte er es auch bis an die Weltspitze. Ferner schilderte er mir aus eigener trauriger Erfahrung, wie schnell man in eine Situation kommen kann, in der man Gewalt zur Verteidigung anwenden muss und wie man sich dann für Notwehr rechtfertigen muss.
Neu angereist war auch eine ältere Frau mit Strickjacke, langen gepflegten Fingernägeln und Brille: Die klassische nette Oma von nebenan eben. Im Gespräch stellte sich heraus dass sie den 6ten Dan in Ju-Jutsu hat und auf eine 45- jährige Erfahrung zurückblicken kann. Auf so jemandem möchte man wohl nicht treffen, wenn man sich ein vermeintlich einfaches Opfer zum überfallen auserkoren hat. In ihren ganzen Bewegungen war eine unglaubliche Präzision und Grazie zu erkennen. An dem Abend bleib ich auch deutlich länger auf als an den anderen Tagen. Die Gelegenheit sich mit solchen Leuten zu unterhalten war zu einzigartig und die Gespräche zu fesselnd, um sich einfach ins Bett zu legen und zu schlafen.
Die erste Einheit am Freitag war Ju-Jutsu bei einem erst am Vorabend angereisten Meister. Den Aufbau dieser Trainingseinheit fand ich sehr gelungen. Vor allem mit dem Hintergrund, dass doch einige vom Camp bisher kaum bis gar keine Berührung mit dieser Disziplin hatten. Nach dem Aufwärmen wurde uns eine kurze, leicht verständliche Technik gezeigt. Diese kurze Techniksequenz wurde stückweise immer wieder erweitert und dadurch war es einem sehr gut möglich, der Technik zu folgen. Als Ergebnis entstand eine recht komplexe Sequenz, die in kürzester Zeit einstudiert war. In der zweiten Trainingseinheit dieses Tages stand Aikdio an. Allerdings merkte ich, wie mir so langsam die Kraft ausging...und das beim Aikido, welche Ironie. Nach dem Training plauderte ich noch kurz mit dem Meister, um ihm zu versichern, dass es kein Desinteresse meinerseits war, sondern, dass ich einfach meinem Körper Tribut zollen musste. Die letzte Einheit des Budo- Camps, Judo, wollte ich mir dann nicht mehr geben, auch wenn es mich irre gereizt hätte. Aber ich erkannte einfach, dass ich dafür nicht mehr fit genug war. Mir fiel da die Aussage meines Trainers ein: „Die vorletzte Übung ist die letzte Übung“. Man muss wissen wann es genug ist. Stattdessen habe ich vor unserer Hütte eine kurze Einführung in die Grundbewegung des WonHwaDo bekommen. Ich fand es faszinierend, dass Schlag und Block quasi die gleiche Bewegung sind. Für eine Sparringrunde bei mir im Training hab ich mir vorgenommen, das mal auszuprobieren. Wenngleich mir auch bewusst ist, dass ich meilenweit von einer echten WonHwaDo Schlagtechnik entfernt bin, werde ich dabei wohl mehr auf das Überraschungsmoment spekulieren müssen, als mich auf eine ausgefeilte Technik verlassen zu können. Im Vergleich zu den anderen Teilnehmern hatte ich natürlich vergessen meinen Kampfsportausweis bei der Ankunft abzugeben und so musste ich dies vor meiner Abreise noch nachholen. Nett fand ich auch, dass wir für die Campteilname 100 Stunden gutgeschrieben bekamen. Es erinnerte mich an einen Scherz, den wir bei uns mal machten, als wir zum ersten mal vom International Survival Training hörten: „Ich geh mal eine Runde spazieren, dann hab ich wieder eine Stunde mehr auf meinem Outdoor Survival Konto“.
Die Heimreise legte ich aus zeitlichen Gründen einen Tag nach vorne. Selbige verlief ohne erzählenswerte Zwischenfälle. Zu Hause wartete dann ein Berg aus Wäsche auf mich und natürlich hatte ich auch viele Eindrücke aufgeschnappt, die erst einmal verarbeitet werden wollen.
Unerwarteter Weise hab ich sehr viele Dinge, die mich beschäftigt haben, von Profikämpfern beantwortet bekommen. Vor dem Camp hätte ich wohl darauf spekuliert, dass ich von Kampfkünstlern und nicht von Kampfsportlern die meisten Antworten auf meine Fragen finden würde. Wie schnell man sich doch irren kann. Die aktuellen Einstellungen, die ich mir durch mein Kampfkunsttraining zugelegt habe: Sich nie satt essen, am Morgen, wenn man aufwacht nicht im Bett liegen bleiben und nie alles auf einmal sagen, nie etwas wörtlich nehmen.
Der Autor dieses Reiseberichts Dr. Klaus Pourvoyeur trainiert seit etwas über einem Jahr ACS bei Olaf van Ellen, dem Organisator des Budo-Camps.
Autor: Dr. Klaus Pourvoyeur